Vorbereitungen und Vorübungen

Reines Denken: Vorbereitungen und Vorübungen

Hat man die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit dem Denken in innerem Ringen erfahren, so stellt sich gleich das nächste Problem: Worin besteht Denken denn nun eigentlich, was kann, was muss man darunter verstehen? Diese Frage soll hier nicht theoretisch angegangen werden, sondern empirisch anhand eigener seelisch-geistiger Beobachtungen und Erfahrungen.

Wenn man nach charakteristischen Eigenschaften des Denkens sucht, so wie es tatsächlich erfahren wird, so treten zwei Aspekte in den Vordergrund, die zugleich in die innere Natur des Denkens führen: die eigene Tätigkeit und der erlebte Inhalt.

Einerseits verbindet man mit dem Denken ein Erleben, an dem man aktiv beteiligt ist, im Kontrast zum bloßen Zur-Kenntnis-Nehmen von Erfahrungsinhalten wie Sinneswahrnehmungen, Behauptungen anderer Menschen, von selbst aufsteigende Erinnerungen, Emotionen, Wünsche etc. Andererseits können im Rahmen dieser Tätigkeit die erlebten Inhalte als etwas erfahren werden, das einem begegnet, das einen auf sich selbst ruhenden Anteil hat, und das seine Rechtfertigung in sich selbst trägt.

1. Beispiel: Vorstellende und denkende Auseinandersetzung mit einem Alltagsgegenstand. Für die hier exemplarisch an einer Tasse demonstrierte Übung kommen die verschiedensten Gegenstände in Frage wie Löffel, Tisch, Stuhl etc. Ausgehend von einer oder mehreren konkret vorliegenden oder bloß erinnerten Tassen können charakteristische Merkmale dieser Tassen herausgearbeitet werden. Dabei kann es hilfreich sein, verschiedene Tassenformen in der inneren Vorstellung ineinander übergehen zu lassen («Metamorphose der Tassen») und mit Hilfe der Phantasie weitere mögliche Tassenformen zu erkunden. Für das Erleben und die Beurteilung des Charakters des Denkens steht die innere Stimmigkeit, Folgerichtigkeit und Kontinuität der Gedanken- und Vorstellungsfolge im Vordergrund. Ist jeder weitere Schritt ohne Bruch aus den vorangehenden Schritten entwickelt? Gibt es einen in der Natur der Vorstellungs- und Denksachverhalte begründeten Zusammenhang der bewusst verfolgten Inhalte? Ob dabei die Tasse (was immer das sein soll) oder dasjenige, was man unter einer Tasse versteht, herauskommt, ist sekundär: Entscheidend sind die inneren Beziehungen der Gedanken und Vorstellungen zu- und aufeinander und nicht deren Beziehung auf außerhalb derselben liegende Fakten, Konventionen oder Meinungen. – Ein Ergebnis dieser Untersuchungen könnte etwa lauten: Eine Tasse ist ein Gefäß, das heiße Flüssigkeiten kontrolliert aufnehmen und abgeben kann, das mit einer Hand gehalten werden kann und aus welchem ohne weitere Hilfsmittel getrunken werden kann. Ob diese Bestimmungen in irgendeinem Sinne hinreichend vollständig oder spezifisch sind, kommt hier nicht in Betracht. Entscheidend ist, dass überhaupt etwas Konkretes gedacht wird, das in sich einen sachgemäßen Zusammenhang hat. Erkundet man mit seiner Erinnerung die bereits bekannten Tassen und/oder erzeugt im Rahmen der obigen Definition mit der Phantasie «neue» Tassenformen, so merkt man bald, dass die mögliche Variationsbreite konkreter Tassenformen enorm groß ist.

Was hier geübt werden kann, sind drei Aspekte des denkenden Vorstellens: die Konzentration auf einen Gegenstand, die Herausschälung von in sich stimmigen, sich selbst tragenden Merkmalszusammenhängen sowie das an diesen Merkmalen orientierte Vorstellen neuer Inhalte (exakte Phantasie), das zu Produktionen von bisher nicht erfahrenen Vorstellungskompositionen führt.

Seit alten Zeiten wird die klarste und in sich notwendigste Form des Denkens in Zusammenhang mit dem mathematischen Denken, der mathematischen Methode, gebracht. Daran soll im folgenden angeknüpft werden. Man muss keinen besonderen Bezug (oder intensiven Nicht-Bezug) zur Mathematik haben, um sich der Fruchtbarkeit des mathematischen Übens bedienen zu können. Der Vorzug elementarer mathematischer Denkinhalte liegt in der einfachen Überschaubarkeit der Elemente und der Klarheit der Bezüge derselben. Zudem erlauben Beispiele aus der Geometrie, für die hier stellvertretend der Kreis gewählt wird, einen direkten Bezug auf die Welt der Vorstellungen, von der hier zunächst ausgegangen wird. Auf nichtmathematische Beispiele wird im nächsten Abschnitt eingegangen.

2. Beispiel: Idee und Vorstellung des Kreises. Jeder in einem westlich beeinflussten Kulturkreis groß gewordene Mensch kann sich einen Kreis vorstellen und weiß, was damit gemeint ist. Es fällt auch nicht schwer, sich verschiedene Kreise in einer Ebene vorzustellen und kontinuierlich ineinander übergehen zu lassen. Auch hier kann man nach gemeinsamen Merkmalen suchen und sie in einen gedanklichen Zusammenhang bringen, wie zum Beispiel den folgenden: Die Punkte eines Kreises (Kreisperipherie) in einer Ebene haben alle den gleichen Abstand von einem Punkt dieser Ebene, Mittelpunkt des Kreises genannt. Diesen Gedanken, diese Idee hat man bereits in der Schule kennen gelernt, man kann seine sprachliche Erscheinungsform vielleicht immer noch auswendig. Einsehen kann man diesen Ideengehalt jedoch erst dann (wieder), wenn es einem gelingt, ihn in seinen eigenen Bezügen, in seiner inneren Notwendigkeit, aktuell an- und durchschauend zu erleben. Die Sicherheit bezüglich der inneren Stimmigkeit des Gedankengehaltes beruht dann nicht mehr auf Erinnerung oder Autorität, sondern auf Einsicht. Wiederum steht bei dieser Übung der innere Zusammenhang der Gedankenkomponenten im Vordergrund und nicht deren Bezug auf überlieferte Wissensinhalte oder Sinneserfahrungen. Insbesondere ist es hier nicht Gegenstand des Nachsinnens, ob und allenfalls wie genau der Gedanken- oder Vorstellungsinhalt zu einer vorliegenden Erfahrung (etwa einem Kreis auf einer Tafel oder einem Blatt Papier) passt; dies ist ein Problem des Erkennens, genauer der Wahrheit eines Erkenntnisurteils, und nicht Thema der vorliegenden Untersuchung. Hier geht es um die innere Natur des Denkens. – Blickt man mit der gewonnenen Einsicht zurück auf die weiter oben charakterisierte Vorstellungsreihe verschiedener Kreise, so wird man gewahr, dass die Kreisidee ein allen diesen Einzelformen zugrunde liegendes invariantes Prinzip umfasst. Auf der anderen Seite kann man genau diese Idee zugrunde legen, wenn man mit seiner (exakten) Phantasie neue Kreise zur Erscheinung bringen will, die man bisher nicht gesehen oder sich nicht vorgestellt hat, etwa indem man auch die Ebene in ihrer Lage im Raum variiert. Die Exaktheit dieser Phantasie-Vorstellungen beruht gerade auf ihrer bewussten Ideenführung.

Aus dem aktiv übenden Umgang mit diesen Beispielen kann entnommen werden, dass es neben dem Erfahrungsbereich der Sinne und den davon angeregten Vorstellungen, Gefühlen und Willensimpulsen einen Erfahrungsbereich von Gedankeninhalten oder Ideen gibt. Dieser erschließt sich nur durch eine aktive Tätigkeit des Individuums und hat seine eigenen Inhalte, mit denen man wiederum auf dem Wege über die exakte Phantasie auf bewusste Weise in die Vorstellungswelt zurückkehren kann.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass der Beginn einer bewussten Auseinandersetzung mit dem Denken in einer aktiven Erkundung des bewussten Vorstellens und seines Zusammenhangs mit Ideeninhalten liegt. Von hier aus kann man sich Schritt für Schritt ein neues Erfahrungsfeld aufgrund eigenen Tätigseins erschließen: das Erleben von reinen Denkinhalten, oder reinen Ideen, unabhängig von Vorstellungen. Das ist Thema des nächsten Abschnittes.